Busfahrt durch Albanien

Ich hatte eine Grenze überschritten, die weit hinter Montenegro lag und hinter der Vorstellung, was für mich zu Europa gehört – diese ignorante westeuropäische Sicht wurde mir in Albanien schnell genommen. Ich verbrachte ein paar Tage an einem Strand in Ulcinj, wären beinahe bei einem Gewitter im Zelt umgekommen, und traf auf Touristinnen aus Deutschland oder Österreich, die entweder aus Albanien kamen oder gerade dorthin wollten.
Sie alle scheiterten daran, mir ein Bild von einem Land zu vermitteln, das erst vor ein paar Jahren auf der Landkarte der Individualtouristinnen aufgetaucht war.

Erst vor 27 Jahren wurde Albanien mit dem frei gewählten, und heute umstrittenen, Sali Berisha demokratisch. 1995 folgte die Mitgliedschaft im Europarat. Es gibt eine eigenartige Geschichte zu den Transformationsjahren. Besaßen unter Diktator Hoxha 3000 Menschen ein Auto in Albanien, durften nach seinem Tod plötzlich alle fahren. So rollte scheinbar halb Albanien zur selben Zeit auf die Kreuzungen, die Straßenabbiegungen, die Haupstraßen und nach unzähligen Unfällen stellte man fest: Brauchen wir vielleicht sowas wie einen Führerschein? Woher verdammt nochmal bekommen wir jetzt einen Führerschein?

„Tirana is really cool.“ Ich stehe in einem Buchhandel auf dem Skanderbegplatz der Hauptstadt und spreche mit einer der Verkäuferinnen.

Sie zögert einen Moment. „Wirklich?“ Die Frau ist etwa in meinem Alter. Ihr Haar ist in einem strengen Zopf nach hinten gezogen, die Brille liegt fest auf der Nase. „Woher kommst du?“ Sie nimmt das Buch von Kadare in Empfang, um es in den Scanner einzulesen.

„Ich bin aus Wien“, antwortete ich. „Und will mir Tirana anschauen.”

„Mit dem Flieger ist es billig herzukommen“, erkläre ich ihr und lege das Buch zur Seite. „Im Zug bist du einige Tage unterwegs, außerdem musst du durch Serbien. Aber es lohnt sich.“

Sie hält mir den Bon hin, so dass ich weiß, wie viel ich für das Buch bezahlen muss. „Ich glaube nicht, dass Tirana mit so einer Stadt wie Wien mithalten kann“, sagt sie und entlässt mich mit einem qualvollen Lächeln. Sie schaut mich an, als würde sie sagen: Was habt ihr Westeuropäerinnen eigentlich für einen Scheißhumor?

Ich stehe auf dem Skanderbegplatz, hier tauchen die höchsten Gebäude der Stadt ins untergehende Sonnenlicht. Eines der Hochhäuser befindet sich im Bau, aber seit Tagen habe ich dort keine Arbeiterinnen gesehen, angeblich wird hier seit neun Jahren gewerkelt, immer nur in einzelnen Zimmern, nie wird mehr als ein Türknauf angebracht.
Dafür sehe ich die Arbeiterinnen des Landes, die Bäuerinnen und Revolutionärinnen auf einem großen Gemälde mit Blick über den Platz. Die Arme in die Höhe und mit geschwenkten Fahnen blicken sie mutig nach vorne; nahe der Oper weht eine riesige Albanienflagge mit dem schwarzem Adler darauf. Es ist später Nachmittag und kleine Wasserpfützen ziehen über die Steine, das Wasser wird hinabgezogen in die Sogen des Untergrunds. Die Stadt ist vom Bunkerwahn des ehemaligen Diktators überschwemmt worden, an jeder Ecke ein Bunker, ein fünfstöckiges Bunker-Museum gibt es außerhalb der Hauptstraßen. Dort plante sich Hoxha mit den Genossinnen im Ernstfall einzuschließen, als die Gefahr eines Atomkrieges ihn fast in den Wahnsinn trieb. Sein ehemaliges Anwesen befindet sich mitten in Tirana, es ist ein großer Bungalow, der Zaun fest verschlossen, aber das Haus dahinter ist gut zu sehen. Gegenüber befindet sich Albaniens erster Kentucky Fried Chicken, die Macht der Imperialisten gegenüber uraufgeführt, ein großer Mittelfinger gegenüber der ehemaligen Diktatur, dessen architektonische Überbleibsel sich im Ausgehviertel der Reichen zeigt. Was die Albanerinnen von ihrem ehemaligen Diktator halten, wird auch wenige Straßen vom Skanderbeplatz deutlich. Dort stehen die überlebensgroßen Statuen von Lenin, Stalin und Hoxha, wobei dem Letzteren nur der Kopf übrig geblieben ist, ein Auge wurde von wütenden Bürgerinnen rausgeschlagen.

Zurück im Hostel schaue ich über die Stadt. Auf der großen Dachterrasse stehen Zelte, ein Grill und ein Areal mit Matratzen und Kissen. Das Hostel gehört einem Deutschen, der sich in Albanien vollständig assimiliert hat, von Ordnung kann auf diesem Dach nicht die Rede sein. Und doch verbringe ich den Abend und einen Teil der Nacht hier, dabei unterhalte ich mich nicht viel, ich lese im Kadare und denke darüber nach, wie ich weiter in Richtung Süden komme. Die Straßen sind in dem Land schlecht ausgebaut, bis jetzt habe ich noch vor jeder Busfahrt beten müssen, ohne überhaupt an einen Gott zu glauben; aber das kenne ich bereits von der Amalfiküste. Ich schaue in die Weite und entdecke auf den nebenliegenden Dächern die Wassertanks, die ganz Tirana versorgen. Ich sehe die Hängematten und die Lichterketten, lausche dem motorisierten Verkehr, der uns bis nach oben beschallt.
Einige Stunden sind es über Vlore nach Sarande, wieder werden wir durch Gebirge fahren. In welchen Händen liegt mein Leben dieses Mal? Vielleicht in der eines alten Mannes, der rauchend und telefonierend das Gefährt durch Gebirge navigiert und auf rutschigen Straßen herumkutschiert, teils ohne Leitplanken? Ich wusste vorher, was mir blüht, aber das ist das Verrückte mit der Angst. Sie sitzt neben mir, hat mich aber nicht so weit abgeschreckt, dass ich ihr nicht ins Gesicht schauen könnte. Und sie ist völlig irrational.

Es ist mir unmöglich ein Auge zuzutun auf diese Fahrt. Sobald ich in Sarande angekomme, fahre ich weitere 2 Stunden an der Küste entlang, um zum Gjipe Beach zu gelangen. Im Reiseführer wird dieser als Geheimtipp gehandelt, aber daran glaube ich nicht mehr, wenn er schon in einem deutschen Reiseführer steht, denn die Deutschen bekommen jeden Trend immer noch als letztes mit. Es sind acht Stunden meines Lebens, die ich mit der Angst verbringen muss, in diesem Land zu sterben. Ich habe einen Flug mit der venezolanischen Fluglinie Avior überlebt, habe nächtliche Fahrten in Kolumbiens Anden hinter mich gebracht, bin in Brasilien auf dem Amazonas umher geschippert: In Albanien packt mich die Angst vor dem Tod wie nie zuvor. Wir fahren wieder auf Gebirgsstraßen, neben mir überprüfe ich die Existenz der Leitplanken und versuche dabei nicht hinunter zu schauen. Der Fahrer ist vorsichtig, er überholt nicht, die Bremsen hat er im Griff. Die Abgabe der Kontrolle an einen mir fremden Mann, der diese Strecke viel öfter gefahren ist als ich, aber ebenso wenig am Schicksal etwas ändern kann. Wenn wir hinunterfallen, dann fallen wir hinunter. Ob in Österreich, Italien oder Albanien.

Die Gespräche mit den Mitreisenden lenken mich ab. Mein limitiertes Albanisch lässt nicht viel Platz für ein interessantes Gespräch, aber viel für Interpretation. Eine Frau aus Griechenland ist mit ihrem Sohn auf Besuch. Mit der Fähre ist Korfu nur eine Stunde entfernt. Der Sohn spricht gutes Englisch, er übersetzt für uns. Ich frage ihn, ob er Dolmetscher werden will. „Ich will Zahnarzt werden.“ Sein Mund blitzt voller gesunder Zähne auf. Seine Mutter stupst in mit der Handtasche an. Sie will wissen, was er gesagt hat. Ich höre aus ihrer Unterhaltung etwas wie „architecto“ heraus und die Mutter lächelt zufrieden. Es sind die gleichen Probleme überall auf der Welt. Die Träume der Kinder sind nie gut genug für die Pläne der Eltern. Die Familie lebt orthodox, erklärt mir der Sohn, ich verstehe nun auch, warum die Mutter sich an jeder Ortseinfahrt bekreuzigt. Sie begrüßt die Heiligenfigur, hat doch keine Angst vor der Busfahrt. Weit unter uns sehe ich das glitzernde Meer und die Motorboote, so klein sehen sie von hier aus, wie sie still auf der Meerdecke wabern.

Am Gjipe Beach angekommen, gibt es einen Steinofen und ich esse die erste gute Pizza seit Wochen. Beinahe kann ich das etwa 6 Stunden entfernte Brindisi auf der Zunge schmecken. Vier Tage werde ich bleiben, bevor ich eine Fähre nach Italien nehme. Es ist keine besonders große Bucht, die zum Gjipe Beach gehört, aber mindestens fünfzig Zelte wurden hier aufgestellt. Eines davon gehört mir, ich habe es in einer der hinteren Reihen versucht, näher hin zu den Bergen und weiter weg vom Meer, das man trotz der Uhrzeit sanft und leise rauschen hört. Kleinere LED-Leuchten weisen den Weg durch die verwachsenen Pfade, die im Kreise herumführen, aber immer in der Bucht bleiben. Es reicht zum Vorankommen, es schont das Auge; vorrangig wird an diesem Ort geflüstert. Es gibt einen organischen Garten, hier baut das Personal vielleicht so manche Substanz an, dessen Geruch süßlich über uns hinwegzieht. Auch, wenn der Strand im Reiseführer steht, auch wenn einige Tagestouristinnen mit Motorbooten anlegen: Die hundert Menschen, die hier übernachten, verteilen sich großzügig auf die Lagerfeuer am Strand. Für eine Übernachtung zahle ich vier Euro.

Ich ziehe meine Schlappen aus und tippe mit dem Zeh ins Wasser. Dabei fällt mir nicht nur auf, dass es noch warm ist, vielleicht sogar wärmer als am Tag, sondern, dass kleine, blitzende Plankton-Organismen immer dann auftauchen, wenn ich mit dem Zeh hinabtauche. Ein paar Camperinnen gehen schwimmen, ich schließe mich an. Es ist egal, ob wir reden, auch tauschen wir keine Namen aus. Wir schauen nur auf die Meerdecke, auf der glühende Sternchen tänzeln, sobald wir ein Bein bewegen, unser Quietschen ist das lauteste Geräusch in dieser leisen Nacht. Später trinken wir Dosenbier, dafür kratzen wir Bargeld zusammen, einen Geldautomat gibt es nicht und die Ration fürs Wochenende ist eng bemessen. Wir kommen aus ganz Europa, vorrangig aus Wien, der Schweiz und Berlin. Die anderen erzählen von einem ganz anderen Albanien als jenes, das ich von Skodhra bis Sarande kennengelernt habe. Sie hoffen, dass es so bleibt. Wir werden so überheblich wie Hipster, die einen neuen Trend entdeckt haben. Es ist ein westeurozentrisches Anliegen, eine Reiseregion möglichst so zu belassen, wie sie angeblich natürlich ist: abgehangen und wirtschaftlich desaströs. Aber auch die Albanerinnen haben das Recht auf Wohlstand, Arbeitsplätze, Reisefreiheit und bessere ökonomische Bedingungen. Und niemand kann uns beweisen, dass das in Teilen nicht vielleicht sogar schon so ist.

Die Fähre nach Brindisi transportiert den Flair Italiens: Sie ist eine Stunde zu spät und auf mysteriöse Weise stehe ich immer am Ende der Schlange. Die Albanerinnen vor mir tragen große Tüten unter den Armen, sogar Flat Screens, original verpackt, andere nehmen Schränke mit. Sie werden bei der Kontrolle auseinandergenommen, nicht wenige wollen ihr Glück im von Arbeitslosigkeit gebeutelten Süden Italiens versuchen, andere bringen Geschenke für die Familien mit. Italien und Albanien verbindet eine lange Geschichte. Das faschistische Italien hatte das Land 1939 besetzt und unter seine Kontrolle gebracht, zuletzt waren 1997 nach einem Aufstand viele Albanerinnen über den Seeweg nach Italien eingewandert. Nicht umsonst spricht man heute von Albaniens Süden als die „albanische Riviera“. Die ruhigen Strände entlang der Gebirgskette erinnern an Italiens Touristenhochburgen, nur, dass hier noch keine Sonnenschirme aufgestellt sind. Das wird sich bald ändern. Jüngst haben die offiziellen Beitrittsverhandlungen zwischen Albanien und der Europäischen Union begonnen. Gerade junge Albanerinnen blicken mit großer Hoffnung auf das Bündnis. „Don’t break it“, ermahnte mich die Barkeeperin am Gjipe Beach. „Don’t Brexit it. We have waited way too long.”

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