Los Vigilantes

Die meisten Korrespondenten waren schon lange aus Venezuela abgezogen, schnell wurde klar, dass dies ein Frauenjob werden würde. Jetzt wollte ich schwitzend an meinem Laptop sitzen und Stories produzieren, wie es Joan Didion vor mir getan hatte, ich wollte für das gesehen werden, was ich gerne gewesen wäre: ein unerkanntes Talent, das nur die richtige Story für sich finden musste, um unendlichen Ruhm zu ergattern. Classic European.

Unter den Wolken blitzten die Hochhäuser hervor. Was für eine Stadt, die sich da offenbarte in der schimmernden Dunkelheit der aufkommenden Nacht. Lichter, die sich in allen Farben durch die bergigen Landschaften und Barrios zogen, die das Tal der Stadt umgarnten.

Kristian, der Bruder der Hostelbesitzerin, in dem ich die nächsten Wochen wohnen würde, holte mich mit dem Wagen vom Flughafen ab. Wir fuhren an den bergigen Vororten entlang, es war mittlerweile dunkel. Stellenweise funktionierten die Straßenlichter nicht mehr und dann gab es wiederum Barrios, in denen es rot, blau und gelb schimmernd zu uns hinab leuchtete. Ich beobachtet eine Meute Venezolanerinnen, die am Rande eines Marktes Früchte aus einem Supermarkt schleppten. Ich sah Menschen, die in Müllsäcken nach Essen suchten.

„Das sind die Armenviertel“, erklärte Kristian, der unruhig den Wagen durch die holprigen Straßen lenkte. „Die darfst du niemals alleine betreten.” Ein Taxi wäre zu riskant gewesen, schon in einem Forum hatte man mir gesagt, dass ich diese mit dem Tod bezahlen könnte. Kristians Blick heftete ernst auf der Straße voller Schlaglöcher. Ich öffnete das Fenster seines alten Fords ein Stück, etwas fühlte sich anders an in diesem Land. Anders als in China, Russland oder auch Kuba. Länder, die ich trotz ihrer Andersartigkeit und repressiven Regime mit Freude und Neugier hatte bereisen können. Ich spürte die Gefahr, die ich hier gebucht hatte, an jeder Ecke. Es war offensichtlich, was in diesem Land passierte. Die Ordnung war aus dem Ruder gelaufen. Ich sah auf der Straße, wie ausgemergelte und verwahrlost dreinblickende Venezolanerinnen einen Bissen erhaschen wollten, indem sie ihren Mitmenschen ihr Wichtigstes wegnahmen. Überhaupt schien die ganze Stadt unterwegs zu sein. Auf der Suche nach etwas, das ihnen schon morgen nützlich sein würde. Waschmittel, Äpfel, Schnürsenkel. Ich sah, wie ein Straßenverkäufer ein Feuerzeug an einem Früchtestand angebunden hatte. Für einen wertlosen Bargeldschein, der nicht mal ein Achtel eines Cents wert war, zündete sich ein Vorbeigehender eine Zigarette damit an.

„Siehst du da oben das Gebirge?“, fragte Kristian.

Im Dunkeln reihte sich eine riesige Kette davon vor uns auf.

„Das ist das Avila-Massiv.“

Ich hatte noch nie etwas über für die Flora und Fauna eines Landes wissen wollen, ich fand das langweilig, aber in Caracas faszinierte mich alles. Das normale Leben war aus seinen Fugen geraten – umso mehr hielt sich Kristian jetzt an die Schönheiten seines Landes fest. Es erwies sich als unmöglich, von den großen Gebirgen nicht beeindruckt zu sein. Besonders in diesen Zeiten der Unruhen wirkten sie wie ein fester Ausblickspunkt, an dem viele ihre Hoffnung hefteten.

„Ich kann dir noch viel mehr zeigen“, sagte er. „Ich kenne mich gut hier aus, als ich noch gearbeitet habe, war ich Touristenführer.“

„Und jetzt arbeitest du nicht mehr?“

Noch immer wusste ich nicht, wo dieser mir noch fremde Mensch mich hinbringen würde. Er hätte mich ebensogut umbringen können, mir Laptop, Kreditkarten und Smartphone abnehmen. Wahrscheinlich hätte das nicht einmal die Regierung gestört. Und die meines Landes hätte wohl zu wenig Befugnisse, um meinen Mord ausreichend aufzuklären. Und doch brachte er mich bis vor die Haustür meines Hostels.

Ich wusste, dass das Hostel im Stadtteil Capitolio lag, dem Regierungsviertel. Zentral, unweit der wichtigsten Sehenswürdigkeiten, von denen ich mir nicht sicher war, ob sie momentan das Interessanteste an diesem Land waren. Ich hatte weder das Hostel, noch die Familie, denen es gehörte, in meinem Leben gesehen. Die Bewertungen im Internet stammten allesamt aus den Jahren, als Hugo Chávez an der Macht gewesen war. Aber hatte ich eine andere Wahl? Meine Buchung kam der Familie Acosta gerade recht. Sie hatten seit Monaten keinen Gast mehr gehabt und jeden Cent, den sie verdienten, steckten sie in die Vorbereitungen auf das Kind, das bald geboren werden sollte. Patrizia, die das Hostel gemeinsam mit ihrem Freund Matias, einem gebürtigen Argentinier, betrieb, war hochschwanger.

„Such dir eins aus.“ Patrizia führte mich in das Zimmer mit drei Hochbetten. Ihren Bauch trug sie vor sich her. Ich nahm das Bett direkt an der Tür und ging ohne Essen schlafen. Wo hätte ich auch welches auftreiben sollen, wenn ich mich alleine nicht raus traute, wenn ich kein Geld besaß, das in diesem Land akzeptiert wurde? Ich schlief achtzehn Stunden durch und machte mich auf den Weg ins Regierungsviertel.

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