Wiener Wohnzimmer

Zimmerreise

Als Kind hatten meine Eltern mich nie auf mein Zimmer geschickt, wenn ich Blödsinn verzapft hatte. Daher war ich dieser Räumlichkeit freundlich gegenüber eingestimmt und ließ mich in diesem Frühling, der für uns alle ein riesiger Einschnitt in unser Leben war, von einer Reise durch mein Zimmer einnehmen.

Eine Wand aus warmer Luft lag vor meinem Gesicht und drohte von hier aus mein Gehirn zu benebeln. Ich sehnte mich nach dem kalten Wind auf der Straße, der manchmal durch Wien zog. Ich brauchte Abkühlung und dachte an den Sprinkler im Garten meiner Eltern, an mein Elternhaus, alles verkauft, und damit fort. Dieser Raum für immer verschlossen.

Ich erinnerte mich an jeden Sommer meiner Kindheit, in dem ich abends dafür gebetet hatte, niemals meine Periode zu bekommen, wenn ich Stunden zuvor zu einem klingelnden Eiswagen gelaufen war, um mir zwei Kugeln Vanilleeis für achtzig Pfennig zu kaufen. Sechs Wochen Ferien vorbei und ich nicht älter geworden, keine Periode bekommen, nur ein Autounfall in der Umgebung, ein Mensch weniger auf dieser Welt.

Ich saß auf meinem neuen senfgelben Sofa und legte alle Karten vor mir selber offen. Ich ließ mich auf diese erste Reise in meine Erinnerung ein und dachte darüber nach, wo ich im letzten Sommer gelandet war, als ich noch nicht in Wien lebte, als wir alle noch an die heilende Kraft des Sommers geglaubt hatten.

Ich lag plötzlich in einer Hängematte in Leticia, einem Grenzdorf Kolumbiens. Ich fuhr auf einem Dampfer auf dem Amazonas, der in Richtung Belem unterwegs war, das ist die erste große Stadt direkt an der Pazifikküste Brasiliens. Die Tage auf dem Boot wurden schnell langweilig und nach einer Woche war auch noch der letzte von uns Touris spirituell zu sich gekommen. Auf meinem Sofa erinnerte ich mich an das sanfte Ruckeln des Dampfers und die alles in sich aufsaugenden Augen des Regenwalds, der nur in der Nacht zum Babylon der Tierwelt wurde. Über Tag war er stets ruhig geblieben, aber wenn die Sonne untergegangen war, hatte sich vor uns ein Kauderwelsch an Kreischen, Ächzen und Wähnen in unmittelbarer Nähe eröffnet. Das Außenbild aber veränderte sich nicht, der Rio Amazonas wurde entweder breiter oder enger, aber das Wasser hatte mich die gesamten zehn Tage an braunes Spülwasser erinnert, an einen riesigen White Russian, wie gemein, denn der Dampfer fuhr unter christlicher Flagge und Alkohol war gänzlich verboten.

So verbrachte ich die heißen Tage an der Reling am Wasser und die kühlen Nächte auf einer Hängematte. Über mir stapelten sich Kolumbianerinnen und Brasilianerinnen – für sie war der Amazonasdampfer ein Pendelschiff – denen stetig Körpergerüche entwichen, während sie sich vom Rhythmus des Amazonas durchrütteln ließen. Unvergessen blieb mir, auch jetzt, hier vom Sofa aus, der Ausflug, den wir ein einziges Mal mit einer Gruppe ans Festland unternahmen, was äußerst gefährlich war, den zur Abfahrt gab das Schiff nur einen Ton von sich und dann war es meist schon am Horizont verschwunden. So rasten wir auf einen Hügel in einem kleinen brasilianischen Ort, um dort nach einer Art Späti zu suchen. Jeden Stein nahmen wir mit, jedes Holzbrett, dass uns weiter in Richtung Dorf führte, Hunde liefen zwischen unseren Beinen und am oberen Ende der Straße stand eine Hütte, die nicht einmal ein Licht besaß, aber dafür einen funktionierenden Kühlschrank. Wir kauften alles, was wir kriegen konnten, unser Schicksal konnten wir nicht greifen: Wir hatten das kühle Gold gefunden, nachdem wir gefühlte Jahrhunderte gesucht hatten.

Ich sah unser Glück deutlich vor mir, hier auf dem Sofa, das Glück, das solange angehalten hatte, wie die Dose Flüssiges hergab, und mir fiel auf, dass ich erst jetzt begriff, was für ein Abenteuer wir damals wirklich erlebt hatten. Auf meinem senfgelben Sofa breitete sich das frische, aber morastige Grün des Amazonas aus. Umgarnte mich wie eine Zimmerpflanze, wuchs an meiner Haut langsam weiter und immer höher. Alles, was ich zu tun hatte, war es geschehen zu lassen, mich davon vereinnahmen zu lassen. Aber warum überhaupt reisen, wenn sich alles Schöne daran erst im Nachhinein erschließt? Wenn das Glück in dem Moment nicht bei uns ankommt?

Es war spät und der Amazonas hatte mich wieder in die Nacht Wiens entlassen. Ich wurde auf mich selbst zurückgeworfen und musste mich meinem Raum widmen und meiner eingeschränkten Wohnung, die nicht viel Platz zum Schlafen, aber umso mehr zum Denken hergab. Die schönsten Träume der Freiheit träumte man angeblich in geschlossenen Räumen und meine Träume warteten auf mich als ein grenzenloser Raum, unerschlossen und dadurch so unerreichbar wie ein Hotelzimmer für den Tagesgast einer venezianischen Kreuzfahrttour.

Ein kleines Licht leuchtete vom Kaffeetisch auf mein weißes Bücherregal aus unechtem Holz, für mehr hatte das Geld nicht gereicht in meiner neuen Bleibe, aber ich träumte bereits von einem riesigen Kirschholzregal. Von oben würden dann grüne Bibliothekslampen auf eine Leiter scheinen, die ich erst besorgen konnte, wenn meine Decke hoch genug war und meine Bücherauswahl bis an diese heranreichte; wenn ich Geld zum Ausgeben hatte, irgendann vielleicht, wer wusste das in diesen Zeiten schon.

Die meisten meiner Bücher handelten von Narren, die auf Märkten ihre Geschichten aus aller Welt erzählten oder von Seefahrerinnen, die von einer Odyssee zurückkamen und die Menschen um sich herum für eine Geschichte versammelten. Unnütz kamen mir die heutigen Reisebücher vor in einer Zeit, in der sowieso jeder überall gewesen war. So entstanden sie dann auch, diese Reisebücher, die alleine von Marketingkonzepten lebten und dabei keine wahrhaftigen Geschichten hervorbrachten. Stattdessen handelten sie von Reisenden, die mit einer geringen Menge Geld um die Welt reisten, oder mit dem Taxi, oder mit dem Fahrrad, oder mit ein paar verrückten Freunden, die im Nachgang gar nicht so verrückt waren, wie es der Leserin suggeriert worden war. Literatur spielte im Segment Reise sowieso keine Rolle mehr: Das war eindeutig ein Grund, um schlafen zu gehen.

Es war Nacht und ich baute mein Zelt in meinem Zimmer auf. Natürlich hätte ich in meinem Bett schlafen können, viel gemütlicher sogar, weich gebettet auf einem Kissen, unter einer leichten, sommerlichen Decke! Aber ich musste diese Reise genauso ernst nehmen, wie jede Reise, die ich in meinem Leben unternommen hatte. Ich legte mich also in das Zelt hinein und deckte mich mit dem Schlafsack zu, obwohl es das gar nicht brauchte. Vor wilden Tieren war ich hier sicher, vor einem guten Frühstück allerdings auch. Ich erinnerte mich an den Kaffee aus meinem letzten Italienurlaub und nahm mir vor, mir diesen am kommenden Morgen zuzubereiten. Ich roch bereits das erdig-süßliche Aroma und befand mich urplötzlich in Italien, in der Emilia-Romagna, am Küchentisch meiner lange verstorbenen Nonna, vor mir die Plastikdecke voller aufgemalter Kirschen und Orangenhälften. Ich hörte Nonnas Geschrei, während sie den Kaffee in einer kleinen Mokkamaschine zubereitete, und ich versuchte über das erste Blubbern hinweg herauszufinden, was es zum Abendessen gab. Und während ich an die Zeltdecke schaute, die mir jeglichen Blick auf mein Zimmer versperrte, war ich bereits tiefer unten im Süden angekommen.

In Palermo trank ich einen schweren Rotwein und rannte durch die Felder Kampaniens, umgeben von Hunderten Büffeln, die mich umrahmten, denen ich so unterlegen war, dass ich hoffte, sie würden nicht zu mir zur Seite schauen. Ungerecht erschien es mir plötzlich, in meinem Zimmer eingesperrt zu sein. Einsam erschien es mir, den Sommer alleine in meinem Zimmer verbringen zu müssen. Aber ich hatte keine Wahl, niemand von uns hatte das. Ein Trost blieb mir dennoch. In mir wohnte eine ganze Welt, ich konnte überall hinfahren, solange ich nur auf meinem Sofa sitzen blieb.

Es war Morgen, die erste Nacht in der erdachten Wildnis hatte ich überstanden. Ich streckte meine Beine aus und öffnete das Zelt. Der Raum wär über Nacht abgekühlt, ich tastete mich hervor, suchte nach einem Anhaltspunkt. Draußen vor dem Fenster braute sich ein Gewitter zusammen, der Sommer versprach äußerst lang zu werden. Ich traute mich auf das Parkett hervor. Ich war jetzt mitten in einer kanadischen Wildlandschaft gelandet, ein Reh huschte vor meinen Hausschuhen entlang, das Zirpen eines Insekts machte sich in meinem Gehörgang breit. Es ließ mich eine Weile nicht los, so dass ich danach schlagen musste, den Feind nicht eine Sekunde im Blick. Dann nahm ich das zahme Insekt auf die Hand und setzte mich auf einen mit Gras bedeckten Stein. Ich schob meinen Pulli weiter über den Hals nach oben ins Gesicht, ein diesiger Wind hatte von meiner Umgebung Beschlag genommen. Ich schaute mich nach Tieren um, denn Bären waren das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte. Stattdessen sah ich einen Menschen. Ein Menschen mit einem riesigen Gewehr in der Hand und einer Pfeife im Mundwinkel.

„Entschuldigen Sie?“, traute ich mich zu fragen.

Eine Frau mittleren Alters drehte sich zu mir um. Ich hätte das aus der Ferne nicht erkannt, aber jetzt stand dieses Prachtstück – und das musste man bei ihrer gewaltigen Präsenz zugeben – vor mir und schaute mich entgeistert an.

„Ich kann Sie heute nicht mitnehmen“, ließ die Frau betont sachlich verlauten. „Wir stecken direkt in der Wildsaison, das ist eine riesige Arbeit, das kostet zu viel Zeit.”

„Das ist kein Problem“, stammelte ich, obwohl ich nicht wusste, wovon sie sprach.

Dann ließ ich die Frau weiterziehen und sah, dass sie einen kleinen Aschehaufen im Gebüsch hinterlassen hatte, der Rauch ihrer Pfeife zog über ihren hinfortschreitenden Kopf hinweg.

„Ich glaube, wir müssen zusammenhalten“, flüsterte ich dem Tier auf meiner Hand entgegen. Erst jetzt sah ich, dass es sich um eine Heuschrecke handelte, eine grün-violette, die sich mir zahm entgegenstreckte, womöglich wollte sie von mir gestreichelt werden, ich hatte so etwas noch nie gesehen und doch passierte das alles direkt in meinem Zimmer.

„Warte, ich mache uns einen italienischen Kaffee“, erklärte ich der Heuschrecke, die Anstalten machte, wegzuspringen. „Du darfst jetzt nicht gehen, unsere Reise fängt doch gerade erst an.” Ich setzte die Heuschrecke auf ein grünes Blatt ab und spazierte mit festem Glauben an ihre Treue in meine Küche. „Soll ich denn ab jetzt ganz alleine bleiben?”, fragte ich sie noch. Als ich wiederkam, war sie verschwunden.

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