Zimmerreisen

„The soul is no traveller; the wise man stays at home (…).“

Was ist dran an diesem Ausspruch, den Emerson bereits 1841, in seinem berühmten Essay Self-Reliance, verfasste?

Jetzt, da wir alle wegen einer Pandemie zu Hause bleiben müssen, scheint mir der beste Zeitpunkt für eine Renaissance der Zimmerreise zu sein. Daher beginnt diese Rubrik mit einem Umzug in die Stadt Wien, die gerade so sehr im Kommen ist, dass der Wedding sich umgucken müsste. Die Reisen der autofiktionalen Protagonistin passieren dabei in ihrem Kopf – sie bewegt sich stets im Mikrokosmos des eigenen Zimmers. Aber auch das kann schnell langweilig werden, so soll also der Raum, das eigene Zimmer schnellstmöglich erweitert werden. Was ist zum Beispiel mit dem Zimmer der Nachbarin, die alleine in Heimquarantäne sitzt, oder mit dem Abteil im Nachtzug durch Europa, das zu einem Ersatzhotelzimmer wird, dem man nicht entkommen kann und worin alles komprimiert wird, was der menschliche Abgrund zu bieten hat? Welche Geschichten von großen Reisen gibt der Mikrokosmos des einzelnen Zimmer preis?

1799 verfasste Sophie von La Roche ihre Erzählung Mein Schreibtisch. Dabei spielte sie frei mit dem Genre – und war doch auf ihre eigenen vier Wände, gar auf eine Tischplatte, beschränkt. Schon 1794 erfand Xavier de Maistre die Zimmerreise, als er während eines sechswöchigen Hausarrests ein Reisebuch über das eigene Zimmer verfasste. Emersons Selbstbeobachtung entstand übrigens nicht zuletzt, um gegen den aufkommenden Tourismus des 19. Jahrhundert anzuschreiben, der in Amerika schon damals als „shallow“, als oberflächlich galt.

Schon vor dem jetzigen Ausnahmezustand wurden Airbnb und Ryanair kritisiert. Influencerinnen erhielten zu viel Aufmerksamkeit, um damit bedeutsame Orte nachhaltig zu zerstören. Wieder sind wir in eine Epoche geraten, in der das Reisen fahrlässig geworden ist. Wir müssen uns wieder darauf besinnen, was das Reisen ausmacht. Dass man dafür sein Zimmer nicht verlassen muss, ist nur wenigen bekannt. Diese Art des Urlaubens schont nicht nur Umwelt und Geist, sie ist auch billig – und unnötige Wartezeiten auf Bus und Bahn sind ausgeschlossen.

Mehr und mehr gewinnen Zimmerreisen an Bedeutung in einer Zeit in der der öffentliche Raum vollends touristisch erschlossen ist, oder gar für einige Monate geschlossen. Das Zimmer ist der Ort für die Geschichten der Prekären, der Verlassenen, der in Quarantäne Sitzenden; all jener, denen ihr Zimmer nun letzter Zufluchtsort ist.

Emerson hätte es auch so formulieren können:

Bevor ich nach mir selber suche, suche ich lieber mein Sofa auf. Bevor ich mich an andere Orte sehne, schaue ich mir mein Zimmer an. Eine ganze Welt gibt es darin zu entdecken.

Hier findest du meine erste Zimmerreise.

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