Warten auf die Revolution in Caracas

Ein Knall, ein Raunen, der Boden bebt. Ich komme mit Mato* vom Einkaufen, es ist der Besitzer meines Hostels, er und seine Freundin Olivia* sind in den letzten Tagen zu meiner Ersatzfamilie geworden. Wir gehen die Avenida Universidad entlang, 500 Meter vom Palacio Miraflores, dem Regierungspalast, entfernt, als uns Dutzende Soldaten entgegenlaufen. Auf Präsident Maduro wurde angeblich ein Anschlag verübt.

Pedro*, der Bruder der Hostelbesitzerin Olivia, in dem ich die nächsten Wochen wohnen würde, holte mich mit einem gebrechlichen weißen Van vom Flughafen ab. Wir fuhren an den bergigen Vororten entlang, es war mittlerweile dunkel. Stellenweise funktionierten die Straßenlichter nicht mehr und dann gab es wiederum Barrios, in denen es rot, blau und gelb schimmernd hinab leuchtete. Ich beobachtete eine Meute Venezolanerinnen, die am Rande eines Marktes Früchte aus einem Supermarkt schleppten. Ich sah Menschen, die in Müllsäcken nach Essen suchten.

„Das sind die Armenviertel“, erklärte Pedro, der unruhig den Wagen durch die holprigen Straßen lenkte. „Die darfst du niemals allein betreten.” Ein Taxi zu nehmen wäre zu riskant gewesen, schon in einem Venezuela-Forum hatte man mir gesagt, dass ich diese mit dem Tod bezahlen könnte. Pedros Blick heftete auf der Straße voller Schlaglöcher. Ich sah, wie die stolzen Venezolanerinnen einen Bissen erhaschen wollten, indem sie ihren Mitmenschen ihr Wichtigstes nahmen. Überhaupt schien die ganze Stadt unterwegs zu sein. Auf der Suche nach etwas, das ihnen schon morgen nützlich sein könnte. Waschmittel, Schnürsenkel, ein Zigarettenstummel. Ich beobachtete, wie ein Straßenverkäufer ein Feuerzeug an einem Früchtestand angebunden hatte. Für einen wertlosen Bargeldschein, der nicht mal ein Achtel eines Cents wert war, zündete sich ein Vorbeigehender eine Zigarette an. Spät in der Nacht lud mich Pedro bei Olivia und Mato ab, die beiden hatten ein Hostel von einem Argentinier besetzt, der das Land schlagartig verlassen musste.

Am nächsten Tag lud Mato mich zu einem Kaffee ein, obwohl er diesen selbst kaum bezahlen konnte. Das Geld hat auf dem Konto sowieso nichts zu suchen: Wer weiß, was es morgen wert ist? Die hochschwangere Olivia erzählte mir von den Alltagsproblemen vieler Venezolanerinnen inmitten der Hyperinflation. Sie wissen nicht, woher sie Calcium für ihre Schwangerschaft, geschweige denn Antibiotika herbekommen sollen. Oder generell etwas zu essen. Allein ein Packet Kaffee war für die meisten zu einem unbezahlbaren Luxus geworden. Genauso wie Rum, Zigarren, Kondome. Viele Venezolanerinnen wurden früh schwanger, Verhütung ist teuer.

Es war mal wieder kein Bargeld im Umlauf in Caracas und noch hatte ich keine Ahnung, wie ich an eine Flasche Wasser kommen sollte. Meine Kreditkarte konnte ich nicht benutzen, diese wurde nach dem offiziellen Währungskurs abgerechnet, nicht nach dem Schwarzmarktpreis, das heißt, ich musste für alles das Vielfache des tatsächlichen Preises zahlen. Ein Anruf bei VISA und ich fand heraus, dass sie sich für Venezuela wegen der Dominanz der Schwarzmarktpreise nicht mehr zuständig sahen. Das Land war vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschottet. Trotz all dieser Probleme fragte mich Olivia nach ihrer täglichen Dosis telenovela zu den wichtigen Themen des Lebens aus. Ob ich einen Freund habe? Bald heiraten werde? Welches die schönste Stadt Europas sei?

In den nächsten Tagen kochte sie für mich, sie versorgte mich mit Wasser. Einmal bekam ich davon 40 Grad Fieber, sie pflegte mich. Wenn ich weiterhin den Menschen, die nichts haben, so dermaßen auf der Tasche liegen würde, musste ich das Land mithilfe der Botschaft verlassen. Endlich hatte Pedro eine Lösung für mich: Er stattete mich für den kommenden Monat mit einer seiner Bankkarten aus, nur diese zählte hier etwas, Bargeld war praktisch wertlos. Die 200 Dollar, die ich ihm gab, ließ er von einem anonymen Kontakt in venezolanische Bolivares eintauschen und auf das Konto einzahlen. 

Ich kaufte nun doch ein paar Nudeln, Reis, Chips und Cola mit meiner VISA. Es schmerzte, 48.000.000 Millionen venezolanische Bolivares auszugeben – umgerechnet waren das nach offiziellem Kurs 200 Euro für ein paar Lebensmittel – aber ich wollte mich der Familie erkenntlich zeigen. Alles war ich ihnen schuldig. Als ich Olivia ein Paket Kaffee überreichte, raste sie damit in die Küche.
Wir verbrachten den Tag zu Hause vor dem Fernseher mit Kaffee, Chips und Cola. Ich war Teil der Familie, einfach so. Präsident Maduro sprach seit Stunden im Fernsehen und erklärte seinen Landsleuten immer wieder: Dass dieser Angriff auf sein Leben auch ein Angriff auf die venezolanische Nation gewesen sei. Dass der imperialistische Feind bald einmarschieren würde. Schon bald würde er die Hintermänner zur Rechenschaft ziehen. Diese verseuchten Kolumbianer mit Geldgebern aus Florida.

Nach dem vermeintlichen Anschlag auf Maduro ging es eigenartig friedlich in der Stadt zu. Ein stinknormaler Montag. Zumindest so normal, wie es in einer Stadt mit einer Hyperinflation möglich ist. Ich lief zwischen Straßenhunden, Schulkindern und Alten, die auf der Suche nach Essen die Müllsäcke durchsuchten. „Im Ausland berichten sie immer, dass wir nach einer Staatskrise alle zusammenbrechen. Aber wir sind das gewohnt, wir wissen immer, wie es weitergeht“, erklärte Pedro mir.

Ein paar Tage später präsentierte Präsident Maduro den Venezolanerinnen die Ergebnisse der offiziellen Untersuchungen. Bekennervideos wurden präsentiert, Mitschnitte von kolumbianischen Terroristen bei der Planung ihres Vorhabens. Jetzt sollte es sogar Verbindungen zur Opposition gegeben haben; kurzerhand wurden diese verhaftet und gefoltert. Das Geld aber sei allein aus Florida gekommen. Am Schluss hob Maduro ein kleines Büchlein in die Luft, während er im viel zu großem Anzug in die Kamera sprach. Es ist die Konstitution der bolivarischen Revolution, im Geiste seines Vorgängers Hugo Chávez.

Die Venezolanerinnen selbst warteten noch immer auf die ihnen so lange versprochene Revolution. Täglich erlebten sie eine Form des diktatorischen Sozialismus, der ihnen nichts, aber auch gar nichts geschenkt hatte. Das Warten war das Schlimmste. Stundenlang, auf Busse, in Supermarktschlangen, überall wurde in Caracas gewartet. Teilweise mussten die Menschen um vier Uhr aufstehen, damit sie rechtzeitig zur Arbeit kommen. Zu einer Arbeit für die sie oft nicht bezahlt wurden und wenn doch, überstieg das Gehalt kaum mehr als 2 Dollar im Monat. Das Verkehrssystem war zusammengebrochen, es gab oft nur einen Bus für Hunderte immerzu Wartende. Dieser Volkssport hatte die Venezolanerinnen lethargisch werden lassen, so versuchten sie gar nicht die Rebellion: Eine weitere Methode des Staates seine Bürgerinnen mürbezumachen und ihnen die lang ersehnte Hilfe – wenn sie durch die verspäteten Essenspakete oder einen Bus am Horizont kam – als eine Art Gottesleistung im Sinne des Assistenzialismus zu verkaufen.

Mittlerweile war mehr als eine Woche seit dem Anschlag vergangen, die Menschen demonstrierten für ihren comandante Maduro, sie stellten sich gegen den angeblichen kolumbianischen Terrorismus, stellten sich gegen die Imperialisten in Florida. Feurig schmissen sie ihre Parolen auf die Straße, als sei der diktatorische Sozialismus das einzige Heilmittel der Hyperinflation. Ich will an diesem Tag am Regierungspalast vorbei. Ein paar bewaffnete Soldaten waren dort abgestellt. „Señora?“ Ein Staatsbediensteter griff meinen Arm und schickte mich weiter zu den Uniformierten. Sie ließen ihren Waffenlauf haarscharf an meinem Gesicht vorbeischrammen, mehrmals. Keinen Ton richteten sie an mich. Aber ich wusste: Sie wollten mir zeigen, wer hier das Sagen hat. Offenbar fantasierten sie, dass die Gringa auf eine weitere Gelegenheit wartete, Maduro umzubringen.

Aber es waren die Millionen Venezolanerinnen, vor denen die Regierung Angst haben musste. Die laut in der Metro über ihren presidente schimpften und jede seiner Ankündigungen so amüsiert abschmetterten, wie den Schwachsinn einer ehemals geliebten Person. Und doch warteten sie immer auf das, worauf es sich zu Warten lohnt: Auf die bolivarische Revolution, die ewigen Wohlstand und die Gleichstellung aller Menschen für sie bereithielt. Dass diese nur von ihnen ausgehen konnte, wussten sie längst. Sie wussten es im Jahr 2018 und sie wissen es heute: Mit dieser Wahl könnte sich das Leben Millionen von Venezolanerinnen schlagartig ändern.



*Die Namen der Protagonistinnen sind alle geändert.