Filip kratzt nervös an seinem rechten Arm, er schiebt sich die langen Haare hinter die Ohren. Die Nacht in Medellín ist heiß und ungeduldig. Heißer, als in den Anden Bogotás und rauer als an der sanfte Küste Cartagenas. Er macht ein Auslandssemester in dieser Stadt, hat die Uni nur ein Mal von innen gesehen. Er ist wegen etwas anderem hier.
„Hast du alles?“, fragt Filip seine niederländische Begleitung.
Sie nickt, zündet sich eine Zigarette an. Dann schiebt sie ihm die kleine Tüte mit weißem Pulver zu.
Anders als in Europa stehen die Studenten nicht lange an, um in den angesagtesten Techno-Club der Stadt, das Top Secret, zu kommen. Sie klopfen an eine schwere Metalltür, ein dunkler Arm zieht sie hinein. Das Gebäude ist unscheinbar, reiht sich in den Block als grauer Klotz mit ein. Wer zu lange vor der Tür steht, erregt Aufmerksamkeit.
„Ecstasy, Marihuana, Kokain?“ So eröffnet ein Mann mit venezolanischem Akzent seine Produktpalette, als die Ankömmlinge sich im schummrigen Vorraum des Clubs Überblick verschaffen. Die Existenz des Clubs soll geheim bleiben. Filip hat über eine kleine Facebook-Gruppe davon erfahren, er weiß, dass er sich hier die ganze Nacht mit Drogen versorgen lassen kann. Für wenige Pesos.
Im El Poblado, dem Gringo-Hipster-Viertel Medellíns, werden Weiße derweil offenkundiger mit den zwei verheißungsvollen Silben in die dunkelsten Straßenecken gelockt: Co-ca, Co-ca?
Die Polizei scheint das nicht zu kümmern auf den von Lampions erleuchteten Gassen, die an jene Neapels erinnern. Dabei hat sich in den Hostels längst herumgesprochen, dass der Kauf bei Unbekannten gefährlich ist. Erst kürzlich ist ein Franzose an mit Rattengift gestrecktem Kokain gestorben.
Im Top Secret schrecken diese Geschichten niemanden ab. Es ist 2 Uhr in einer Stadt, in der die meisten Clubs schon geschlossen sind. Aber Europäer sind Späteres gewohnt, schon bald werden sie die Tanzfläche für sich einnehmen. Mittlerweile legt eine Indigene Techno auf, das freut die Kulturbegeisterten vom entfernten Kontinent, die jetzt aus allen Ecken der Stadt in den Club strömen. Eine echte Berlin Experience liegt in der Luft, Latinos trifft man nur für den Verkauf von Coca. So stolpert auch Filip im Top Secret in eine Parallelwelt, die sich ganz und gar dem Drogentourismus verschrieben hat. Wer hier dem Richtigen die Hand schüttelt, hält sogleich ein Gramm in der seinen. Engländer, Deutsche, Franzosen und Spanier frönen öffentlich dem Konsum. Die vom Weißen umrahmten Nasenlöcher werden von kreisenden Neonlichtern erleuchtet – mitten auf der Tanzfläche.
Medellín besteht aus 256 Barrios mit 2,5 Millionen Einwohnern. Die meisten davon wurden bis in die Neunziger Jahre vom Krieg zwischen der Guerillaorganisation FARC, verschiedenen Paramilitärs und Kartellen eingenommen. Erst Pablo Escobar, der bekannteste Drogenbaron der Welt, vermochte es, sie durch seine Geschäfte zu vereinen – und dabei unzählige Menschen zu töten. „Es war für uns normal, den Blutspuren auf dem Weg zur Schule zu folgen“, erzählt der Tourguide Leonardo bei einer Führung durch die Comuna 13, das ehemals gefährlichste Barrio der Stadt. „Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn Tausende Gringos in unser Land stürmen, nur um eine schnelle Line zu ziehen?“
In Kolumbiens ländlichen Gebieten explodiert derweil der Kokaanbau. Das Cali-Kartell, das nach Escobars Tod die Distribution übernommen hatte, wurde von der kolumbianischen Armee zerschlagen. Auch die FARC wird nach und nach abgerüstet, ein Friedensprozess unter Ex-Präsident Santos führte zumindest offiziell zu deren Resozialisierung. Und doch hängt die Existenz vieler Kleinbauern von der Produktion ab. Der Verdienst ist mager, aber lukrativer als der Anbau von Bananen.
In der Hauptstadt Kolumbiens in Bogota, wimmelt es fast täglich von Drogenhunden, beinahe an jeder Straßenecke und besonders im Touristenviertel La Candelaria. Hochbewaffnete Polizisten führen Razzien in aller Öffentlichkeit durch, indem sie die Rucksäcke der Kolumbianer und hierher geflüchteten Venezolaner durchsuchen. Präsident Duque kündigte bereits eine härtere Drogenpolitik an. Da Kolumbien weltweit noch immer größter Kokaproduzent ist, ist sein erklärtes Ziel die Kokapflanzen mit Drohnen auszurotten.
„Einige Touristen koksen auf dem Dach, auf dem Escobar angeblich erschossen wurde“, erzählt Leonardo, als die Touristen von den Höhen der Comuna 13 aus auf die Stadt schauen. Sie sind mit Rolltreppen hochgekommen, ein weiteres Projekt der Stadt, um die Comunas in der Stadt sichtbarer zu machen. Sein Blick geht weit und ist doch von Steinhäusern eingeschlossen. Er schaut sich um, eigentlich darf er den Namen Escobar hier gar nicht aussprechen, bisweilen benutzt er ein Pseudonym.
„Wer in der kolumbianischen Kultur nur Kokain sieht, der weiß nicht, was wir durchgemacht haben“, sagt Leonardo. „Netflix hat alles kaputtgemacht.“ Er zeigt auf ein Graffiti des Künstlers Chota 13. Das Bild steht für die Transformation der Stadt. Seit einer der bekanntesten Drogenbarone der Welt tot ist, haben viele Hoffnung, dass das Leben hier einfacher wird – und dass es so bleibt. Einiges spricht dafür. Das Wall Street Journal hat Medellín 2013 zur innovativsten Stadt der Welt gekürt.
Filip trinkt einen kolumbianischen Kaffee, um wach zu bleiben. Die ganze Nacht hat er nicht geschlafen, so wie viele andere Touristen in dieser Stadt. Bald wird er wieder nach Bergen abreisen, für ihn war Medellin nur eine kurze Station auf seinem Lebensweg, gezeichnet von billigen Drogen und durchtanzten Nächten. Die 50 Millionen Kolumbianer aber werden weiterhin an ihre Geschichte gebunden bleiben.