Jemand hat sich in Cabo Polonio umgebracht. Zwar 2017 schon, aber die Geschichte hängt diesem Ort nach. Bei knapp 100 Einwohnerinnen ist das ein Schicksal, das jeden Dorfbewohner und jede Dorfbewohnerin etwas angeht, genau wie eine Geburt oder eine Hochzeit. Der Mann war Alkoholiker, wurde von seiner Frau verlassen und lebte seitdem abgeschieden in einem der Steinhäusern, wie sie für diesen Ort typisch sind. Der Hausbau folgt strengen Regularien, auch verlangt der einzige Holzhändler der Region, dessen Familie sich vor Jahrzehnten ein Monopol aufbaute, horrende Preise für diese Ressourcen. Beinahe unerschwinglich, auch für die Einwohnerinnen, deren Einkommen durch den Tourismus rapide gestiegen ist. So behelfen sich die vom Rest des Landes abgeschiedenen Einwohnerinnen mit Kunst und Malereien. Fast jedes Haus hat einen bunten Anstrich, oder ein Graffiti auf den Holzplatten, die von weit her zu sehen sind.
Alleine der Klang des Namens dieser kleinen Ortschaft an einer oberen Spitze des Atlantik lässt die meisten Uruguayerinnen mystische Geschichten erzählen. Magisch soll es hier sein, hippiesque, aber niemals hinterwäldlerisch. Dass die wenigen Hostels kein Wifi anbieten, ist eine Entscheidung der Besitzerinnen. Auch laufendes Wasser und Elektrizität sind eine Seltenheit. Dafür kann man bei wolkenlosem Himmel die Galaxie bestaunen, den rundgeformten Sternenhimmel, der Cabo Polonio wie unter einer Kuppel festhält. Wie ein Versteck vor der Welt da draußen, die den Wettkampf um die Aufmerksamkeit der Menschen längst eingegangen ist
Weiter oben, nicht weit vom Ortskern, liegen feinsandige Dünenlandschaften. Auf der anderen Strandseite findet sich eine der größten Seehunde-Kolonien der Welt. So liegen sie hier, getrennt von der Bevölkerung durch ihre tiefere Lage, auf dicken Felsen, meist den ganzen Tag, dramatisch umrahmt von den schäumenden Wellen, die kurz vor ihnen Halt machen und wieder in das Meer zurückfließen. Einige streiten sich, andere liegen herum, wieder andere verschwinden im Wasser. Wenige sieht man leblos am Strand liegen. Das ist kein Skandal, der hier aufgedeckt werden könnte, sondern das Spiel der Natur. Und tatsächlich gewöhnt man sich nach einigen Strandspaziergängen an den Ausblick auf eines von der Sonne ledrig beschienenen Seehundekörpers, der von Moskitos befallen ist.
Betritt man das Hostel von Alejo, das Lo de Alejo Hostel, betritt man eine andere Welt. Es gibt kein Haustürschloss und die Toilette wird mit einer Wanne voller Wasser durchgespült. Über dem kleinen Kamin hat einst eine argentinische Jazzband ein Mandala auf Stein gemalt und Touristinnen haben ihm Bücher auf ihren Reisen dagelassen, die vergilbt und zerfleddert auf einem Regal liegen. Zwar hat er keinen Router im Haus, aber dafür Internetempfang auf seinem Smartphone. Der Sommer naht in diesem Teil des Kontinents und damit auch die Ankunft der Touristinnen. Bis zu 1500 können es in der Hochsaison werden. Sie nehmen den Bus von Montevideo bis zum Terminal von Cabo Polonio. Dort werden sie auf die großspurigen Trucks aufgeteilt, die sie in den Nationalpark fahren.
Alejo werkelt seit Wochen an seinem Häuschen herum, er will eine Dusche aufbauen – diese sind nicht selbstverständlich für Cabo Polonio – und ein Wassertank soll an dem Brunnen angeschlossen werden für fließendes Wasser. Schon lange überlegt er, sich WiFi zu besorgen, denn die Touristinnen fragen wirklich alle danach. Neuerdings hat eines der Hostels im Ort den Zugang im Angebot. Bei bis zu 40 US-Dollar, die man bei Alejo pro Nacht bezahlt, wäre die digitale Verbindung ein logischer Gedanke. Aber ist es nicht die Abgeschiedenheit wegen der viele herkommen?
Alejos Bruder betreibt das Green Hostel zwei Gehminuten auf dem Sandweg entfernt, denn Straßen gibt es in Cabo Polonio nicht. Bei Nacht lotst er die Ankömmlinge mit einer grünen Laserlampe zu seiner Unterkunft und trägt zusätzlich eine Taschenlampe am Kopf. „Da oben kann man den Mars sehen“, erklärt er und richtet seinen Laser in die Richtung. Nicht nur der Selbstmord des alten Mannes hat das Leben in Cabo Polonio verändert und seine Bewohnerinnen nachdenklich gestimmt. Vor zwei Jahren ging eine Einbruchserie los, geführt von einer Bande aus Valizas, dem nächstgelegenen Dorf. Sie waren in das Green Hostel eingedrungen und hatten den Touristinnen ihr Geld unter dem Kissen weggeklaut. Ein Schloss würde er aus Prinzip nicht kaufen, Vertrauen unter den Nachbarn gehört zu Cabo Polonio dazu. Aber da es keine Polizei gibt, ist er damals mit den Nachbarn nächtelang auf Streife gegangen. Gepackt hatten sie niemanden.
Alejos Bruder ist vor wenigen Monaten Vater geworden. Wird eine Frau in Cabo Polonio schwanger, muss sie das letzte Quartal vor der Geburt in der nächstgelegenen Stadt verbringen. Zu gefährlich wäre eine Geburt hier, wo es keine Krankenhäuser oder Ärztinnen gibt. Kaum vorstellbar ist so ein der nicht aus Armut auf lebenswichtige Errungenschaften verzichtet, sondern aus eigenem Antrieb. Aber es ist alles wahr: Cabo Polonio existiert in seiner einfachsten Form. Die Frage bleibt, wie lange noch.
Nachts wirkt dieses Fleckchen fast geisterhaft, wenn man durch den winzigen Ortskern streift. Die Bars und Restaurants sind mit Kerzen ausgeleuchtet, vor einigen gibt es eine Feuerstelle. Der Spaziergang wirkt wie eine Rückkehr in ein Zeitalter vor Edison – und im Hintergrund rauscht ein weißer Schaumteppich an den Strand, vom Mondlicht erleuchtet. Es ist, als würden die Bewohnerinnen sich an die Dunkelheit anpassen, laut ist es nicht, auch findet sich hier kein touristisches Gewusel, allerdings ist die Hochsaison noch nicht angelaufen.
Nico und seine Freundin Letitia sind jeden Frühling hier. Sie mieten sich ein kleines Holzhaus, wo es weder Strom noch Wasser gibt. Sie sind vollbepackt mit Klamotten, Bettzeug, Kerzen und Campingstühlen. Alleine ihre Nahrung kaufen sie im Ort, der ein wenig an Tante Emma Läden erinnert. Jeden Morgen liefert ein Truck neue Lebensmittel aus der Stadt auf die ein dreifacher Preis geschlagen wird, weil die Anschaffungskosten mitbezahlt werden. Nico liebt diesen Ort nicht nur, weil er hier ungestört Marihuana rauchen kann – in ganz Uruguay ist der Konsum zwar erlaubt, aber dennoch nicht gerne gesehen – sondern auch, weil der Geist dieses Ortes ihn begeistert. „Du bist frei, es gibt nichts, was du zu tun hättest. Nichts, als die Seehunde zu beobachten und den Tag am Strand zu vebringen.“
Es ist Samstagabend und Alejo sitzt heute alleine in seinem Wohnzimmer, die Gäste sind im Club Estacion Central, abgestiegen, die einzige Disko in Cabo Polonio. Der Kamin wärmt seine Füße, die Flasche Rotwein ist bis zur Hälfte geleert. Letzten Sommer war er 3 Monate lang in Europa unterwegs, dort habe es in den Hostels auch überall WiFi gegeben, warum das hier nicht der Fall sein solle, erschließt sich ihm nun auch nicht mehr. „Ich weiß schon, weswegen wir hier besucht werden“, sagt er. „Aber müssen wir wegen der Ruhe vor der lauten Welt unbedingt auf Modernität verzichten?“ Er scheint dabei in Richtung des Green Hostels zu schauen, scheint seinem Bruder auf eine lang gestellte Frage zu antworten.
Aber die Seine wird heute unbeantwortet bleiben, an diesem Abend in Cabo Polonio, der so langsam vergeht, wie ein Tatort am Sonntagabend. Die Sterne scheinen heute das brüchige Häuschen zu umrunden, aber um sie zu sehen, muss man sich hinaus trauen auf die sandigen Wege, die der Nacht ein wenig Helligkeit verleihen. Das Licht des Leuchtturms braucht knapp 12 Sekunden, um einmal über ganz Cabo Polonio hinwegzustreichen. Romantisch und entschleunigend ist das für Touristinnen. Eine Banalität für die Einwohnerinnen. Denn auch in Cabo Polonio nimmt sich manchmal jemand das Leben. Trotz aller Abkehr vom modernen Leben.
wieder ein schönes Streiflicht, das Menschen, Eindrücke, Begebenheit einfängt wie ein Flaneur und nicht so eitel in der Selbstbetrachtung wie Bruce Chatwin, den ich auch sehr mag! Doch Laura, das wird immer besser. Wenn das mal als Buch kommt… ich kaufe es sofort!
Lieber Rolf,
Danke, dass du immer so an mich glaubst, wirklich. Mit nem „knalligen Cover“ und „klamaukigem Klappentext“ wären diese Texte vielleicht schon in Buchform zu bekommen. Aber den Fehler will ich nicht nochmal machen. Vielleicht kümmere ich mich einfach mal selber drum und dann kriegst du ganz sicher ein Exemplar. <3
Wie schön,so einfach und doch so hervorragend nimmt uns Laura wiedermal mit auf einen kleinen Ausflug weg vom Sofa in eine andere kleine Welt wo die Zeit ,aber doch nicht ganz die Hoffnung auf Moderne steheneblieben scheint. Bravo und danke für ein weiteres Lesepäuschen